Dienstag, 16. September 2008

Neonazi-Attacke oder Hakenkreuz-Lüge?

18-jährige muss sich wegen Vortäuschung eines vermeintlich rechtsextremistischen Überfalls verantworten

Hainichen/Berlin - Seine Mandantin sei unschuldig, beteuerte der Verteidiger der 18-jährigen Angeklagten zum Auftakt des Prozesses. "Sie ist einem kleinen Mädchen zu Hilfe geeilt, das sie einem Angriff glatzköpfiger Jugendlicher ausgesetzt sah", sagte Rechtsanwalt Axel Schweppe vor dem Amtsgericht in Hainichen bei Chemnitz. Im November 2007 sei Rebecca K. von vier Neonazis angegriffen worden, als sie ein Aussiedlerkind beschützen wollte. Die Männer hätten sie daraufhin überwältigt und mit Messern ein Hakenkreuz in ihre Hüfte geritzt. So schildert die Verteidigung den Hergang des Vorfalls.
Die Staatsanwaltschaft Chemnitz ist hingegen überzeugt, dass sich die Frau die Verletzungen selbst zufügte. Seit gestern muss sich das Mädchen, das erhobenen Hauptes den Gerichtssaal betrat, wegen Vortäuschens einer Misshandlung verantworten. Weil die Angeklagte zum Zeitpunkt des Vorfalls minderjährig war, wird hinter verschlossenen Türen verhandelt.
Die Geschichte hatte als "Hakenkreuz-Fall" Schlagzeilen gemacht. Die Ermittler schenkten der Schilderung des Mädchens zunächst Glauben. Es klang vor allem deshalb plausibel, weil ein Neonazitrupp die mittelsächsische 16 000-Einwohner-Stadt noch bis zum Frühjahr des vergangenen Jahres in Angst und Schrecken versetzt hatte. Wegen ihres mutigen Eingreifens war das Mädchen als Heldin gefeiert worden. Das Bündnis für Demokratie und Toleranz zeichnete Rebecca K. mit einem Ehrenpreis aus. Doch trotz mehrfacher Aufforderung und 5000 Euro Belohnung fand die Polizei keine Zeugen für die Tat. Die Ermittlungen gegen einen vermeintlichen Tatbeteiligten wurden eingestellt. Wenig später kam ein zweiter Gutachter zu dem Schluss, dass sich die damals 17-Jährige das Hakenkreuz vermutlich selbst eingeritzt hatte. Die Staatsanwaltschaft distanzierte sich von Rebecca K. Von nun an war von einem "zweiten Fall Sebnitz" die Rede, der drohe, eine Stadt und eine ganze Region in Verruf zu bringen. 2000 war in Sebnitz ein Badeunfall als Neonazi-Mord an einem Ausländerkind angesehen worden. Die NPD, mit acht Abgeordneten im Sächsischen Landtag vertreten, frohlockte. Abermals wurden Rechtsextreme zu Unrecht der Gewalt bezichtigt. Auf rechten Internetseiten war die Häme groß.
Dass es in Mittweida und Umgebung eine rechtsextremistische Szene gibt, auf deren Konto diverse Straftaten gehen, ist jedoch unbestritten. Anfang August wurde ein Brandanschlag auf einen linken Jugendklub im benachbarten Rochlitz verübt. Zur selben Zeit wurden drei Anführer der mittlerweile verbotenen neofaschistischen Vereinigung Sturm 34 wegen gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung verurteilt. Die Kameradschaft hatte es sich zum Ziel gemacht, Mittweida und Umgebung zur "national befreiten Zone" zu machen. Im April 2007 war sie vom sächsischen Innenministerium wegen "Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus" verboten worden. Die Gruppe hatte sich nach einer SA-Einheit benannt, ihre Aktivisten hatten regelmäßig "Skinheadkontrollrunden" in der Region durchgeführt. Linke und Ausländer wurden attackiert. Den harten Kern schätzten die Ermittler auf 40 Mitglieder, die Zahl der Mitläufer auf 100. Als Erkennungszeichen hatten sich die Mitglieder eine Siegrune tätowiert.
"Nur weil einige Sturm-34-Mitglieder verurteilt wurden, ist der Rechtsextremismus nicht aus der Region verschwunden", sagt Mittweidas Bürgermeister Matthias Damm (CDU). "Aber es ist wesentlich ruhiger geworden. Die Bemühungen der Stadt um ein demokratisches Miteinander sind groß." Die Bürger des sächsischen Städtchens wehren sich, es gibt zahlreiche Initiativen gegen rechts. Gegen Gewalttäter hilft das nur bedingt. "Sturm 34 ist so aktiv wie eh und je, auch wenn die Anhänger nicht mehr ganz so offensiv in Erscheinung treten", sagt Marcus Eick, Sprecher des Bündnisses für Menschenwürde im Landkreis Mittelsachsen. "Eigentlich dürfen die Anhänger nicht mehr in Gruppen von mehr als drei Personen zusammenkommen. Das passiert aber immer wieder, ich allein habe es dreimal angezeigt. Seither treffen sie sich in Wohnungen." Die Gewalt habe sich aus Mittweida heraus in den Landkreis verlagert. Angeblich plant die rechte Szene, einen Jugendklub im Nachbarort zu gründen.
Auch wenn der "Hakenkreuz-Fall" den Ruf der Stadt als "rechtes Rattennest" beschädigt hat - Bürgermeister Damm und die Sprecher der Initiativen Mittweidas wollen über Rebecca K. nicht urteilen. Zunächst einmal müsse das Gericht feststellen, was wirklich passiert sei. Verteidiger Axel Schweppe fordert den Freispruch seiner Mandantin. "Es gibt weder Zeugen noch klare Beweise", sagte er. Das Urteil wird für den 13. Oktober erwartet.

Quelle: welt.de

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